Die zeitliche Struktur von Unterricht

In den letzten Wochen habe ich in verschiedenen Kontexten über das Für und Wider von Doppelstunden diskutiert. Ich möchte im Folgenden nicht auf die historische Bedingtheit des 45-Minuten-Taktes an deutschen Schulen eingehen. Diese Eigenart stammt aus Preußen und wird genauer zum Beispiel in der Wikipedia diskutiert.

Vielmehr geht es um die Frage, welche zeitliche Strukturierung Unterricht an Schulen haben sollte. Oftmals liest und hört man die Sichtweise, dass „Doppelstunden“, also Stunden mit einem Umfang von 90 Minuten…

  • …zu deutlich leichteren Schulranzen führen würden (durch weniger Material),
  • …Stressfaktoren aus dem Schulalltag beseitigten (durch weniger unterschiedliche Lerngruppen auf Lehrerseite und weniger Fächer auf Schülerseite; geringere Anzahl Raum- und Gebäudewechsel auf beiden Seiten),
  • …eine vertiefte Beschäftigung mit den Unterrichtsthemen durch „mehr Zeit“ erst ermöglichten.

Heute gab es hierzu bei Mastodon eine längere Diskussion, zu der dieser Artikel einen kleinen Beitrag leisten soll:

40min Stunden? Fand die Idee zuerst gar nicht schlecht. Dadurch erhöht sich aber die Arbeitsbelastung imho immens. Muss ja auch 40min genauso vorbereiten wie die regulären. Korrekturen genauso. Bekomme aber mehr Unterrichtsverpflichtung obendrauf. Auch wenn die kürzer sind. Oder bin ich völlig falsch? Gibt’s Erfahrungen? Vll sogar direkt von der IGS Braunschweig? deutsches-schulportal.de/konze 

(von @klausramsaier@bildung.social)

Spannend aus meiner Perspektive war in diesem Zusammenhang die Antwort von @lutz_@bildung.social:

Im experimentellen Fächern sind schon 45 Minuten deutlich zu kurz. Nachdem der Versuchsaufbau besprochen und die Materialien ausgegeben sind, ist schon viel Zeit vergangen. Seit Jahren bettele ich beim Team der Stundenplaner um Doppelstunden. Aber das ist mit vielen Randbedingungen oft nicht möglich.

Sowohl ich als auch meine Offline-Physiklehrer-Bubble sehen das insgesamt deutlich anders: Aus meiner Sicht ist die Frage ja nicht, ob ich 90 Minuten oder 45 Minuten unterrichten möchte. Vielmehr ist – die Rahmenbedingungen in den meisten Bundesländern vorausgesetzt – die Frage ja eher: Möchte ich die 90 pro Woche zur Verfügung stehenden Minuten lieber „im Block“, also einmal wöchentlich unterrichten – oder lieber „gestückelt“, also zweimal wöchentlich. Die folgenden Überlegungen beziehen sich also auf typische „Kurzfächer“ mit zwei Wochenstunden in der Stundentafel. Inwieweit dies auch auf typische Langfächer übertragbar ist, kann ich schwer sagen.

Ich persönlich empfinde letztere Option, also die Trennung in Einzelstunden, als sinnvoller und aus meiner Erfahrung heraus kann auch in diesem Setting sinnvoll mit Schülerexperimenten gearbeitet werden. Zumindest dann, wenn man von vornherein den Unterricht so anlegt, dass die Diskussion und Deutung eines Experiments zeitlich von der Durchführung (die in der Regel dann in einer eigenen Einzelstunde stattfindet) trennt. Der Vorteil liegt aus meiner Sicht darin, dass insgesamt seltener der komplette Unterricht in einer Lerngruppe ausfällt, sei es durch Krankheit, durch Feiertage, Klassenausflüge, …. So konnten erste (mehr oder weniger empirische) Überlegungen des MNU zeigen, dass durch die Trennung in Einzelstunden am Ende des Tages deutlich mehr Unterricht stattgefunden hat. Auch das zentrale, dort vorgebrachte lernpsychologische Argument teile ich: Häufigere, regelmäßige Beschäftigung mit einem Thema führt zu einer dauerhafteren Verankerung der inhaltlichen und prozessbezogenen Kompetenzen. Allerdings: Eine “richtige” Studie ist das MNU-Papier nicht. Zudem wurden neurobiologische Überlegungen in Bezug auf Lehr-Lern-Situationen oftmals (aus meiner Sicht zurecht!) kritisiert.

Was also hat die empirische Forschung zu dem Thema beizutragen? Blickt man in die berühmt-berüchtigte Hattie-Studie, so findet sich der dort untersuchte Einflussfaktor „Spaced vs. mass practice“, der im Wesentlichen die Verteilung der Beschäftigung mit einem Stoff über den Zeitverlauf beschreibt:

The claim is that students are better able to commit information to memory when they study that information in spaced (or distributed) intervals rather than all at once in a “massed” interval. Spaced practices involve practice broken up into a number of shorter sessions, over a longer period of time. Massed practice consists of fewer, longer training sessions.

In aktuellen Auflagen der Hattie-Studie wird dem verteilten Üben eine Effektstärke von d.=0.65 zugesprochen, was insgesamt schon relativ hoch ist. Mit dem aktuellen Podcast „Psychologie fürs Klassenzimmer“ im Ohr hat die bloße Effektstärke natürlich nur geringe Aussagekraft. Ein Blick in den qualitativen Teil der Hattiestudie führt allerdings zu einer Bestätigung der eben beschriebenen Sichtweise, dass die regelmäßige Beschäftigung im Wochenverlauf für den Lernerfolg der Schüler:innen besser zu sein scheint als ein einzelner Unterrichtsblock. Hattie fasst den Forschungsstand (basierend auf seinerzeit zwei Metastudien mit mehreren Tausend untersuchten Schülerinnen und Schülern) wie folgt zusammen:

Nuthall (2005) claimed that students often needed three to four exposures to the learning—usually over several days—before there was a reasonable probability they would learn. This is consistent with the power of spaced rather than massed practice. Donovan and Radosevich (1998) concluded that students in spaced practice conditions performed higher than those in massed practice conditions. (Hattie, 2009, S. 186 – Link siehe oben)

Zugegeben, „Spaced Practice“ ist im Detail natürlich nicht deckungsgleich mit „Einzelstunden“. Was sagt also die (neuere) Empirie dazu? Vor einiger Zeit habe ich hierzu eine (halbwegs) systematische Literaturanalyse durchgeführt. Die Suche in der Datenbank pedocs nach „Doppelstunden“ liefert 117 Treffen (Stand: 2.11.2022). Davon allerdings nur drei empirische Studien, die ordentlich publiziert und mit nachvollziehbarer Methodik auffindbar sind:

  • Höhmann & Kummer (2006) beschreiben in ihrem Beitrag eine Studie, die die Einführung von 60-Minuten-Stunden untersuchte. Streng genommen handelt es sich nicht um eine im eigentlichen Sinne empirische Studie mit fundierter Auswertungsmethodik, es wird aber die qualitative Auswertung von Interviews mit Schüler:innen sowie Lehrer:innen beschrieben. Die Erfahrungen mit 60-Minuten-Stunden werden von diesen insgesamt eher positiv wahrgenommen, insbesondere durch die Lehrpersonen im Hinblick auf eine wahrgenommene „Beruhigung“ des Schultages. Allerdings wird auch von Konzentrationsprobleme bei Schüler:innen gegen Ende der Stunden berichtet, die im klassischen 45-Minuten-Takt nicht beobachtbar waren …
  • Stender et al. (2013) berichten in ihrem doppelblind begutachteten Artikel über eine empirische Untersuchung videografierter Unterrichtsstunden und vergleichen dezidiert Einzel- und Doppelstunden im Physikunterricht miteinander. Zentrales Ergebnis der methodisch plausiblen und nachvollziehbaren Analyse: Die nutzbare Unterrichtszeit ist in beiden Varianten nicht signifikant unterschiedlich. Erstaunlicherweise werden sogar Lernprozesse in zwei mit zeitlichem Versatz aufeinander folgenden Einzelstunden deutlich häufiger abgeschlossen und unterschiedliche Zielebenen angesteuert. Der Effekt sei groß und vor allem auf die unterschiedliche didaktische Struktur von Einzel- und Doppelstunden zurückzuführen.
  • Borowski & Fischer (2010) stellen ebenfalls eine Videostudie aus der Physikdidaktik vor. Basierend auf der Auswertung umfangreichen Videomaterials wurde festgestellt, dass zentrale Kompetenzen aus dem AFB III in klassischen 45-Minuten-Stunden (Stand damals) nicht angesteuert werden. Allerdings basiert diese Studie auf einem ähnlichen Ansatz wie die zuvor beschriebene, neuere Studie von Stender et al. – und nutzt einen deutlich kleineren Datensatz. Die Studie von Stender et al. kann daher aus meiner Sicht deutlich belastbarere Ergebnisse aufweisen.

Die eben beschriebenen empirischen Studien sind tatsächlich die einzigen, im eigentlichen Sinne empirischen Studien, die wissenschaftlichen Standards im Wesentlichen genügen. Sie alle behandeln den Lernerfolg der Schüler:innen. Interessant ist aus meiner Sicht aber noch ein weiterer Punkt: Hat die Einführung von Doppelstunden einen positiven Effekt auf die Lehrergesundheit, indem zum Beispiel „Stress“ durch häufige Raumwechsel reduziert wird?

Hierzu wurde, da die Datenlage bei Pedocs (siehe oben) eher dünn war, die deutlich breiter aufgestellte Suche von Google Scholar genutzt. Es wurde nach „Lehrergesundheit & Doppelstunden“ bei Google-Scholar gesucht, wobei die Suche 47 Treffer erbrachte (Stand: 3.11.22). Eine Sichtung aller 47 Ergebnisse zeigte: Bei keinem Treffer handelt es sich um empirische Studien, die den Effekt tatsächlich analytisch in den Blick nehmen würden. Heraus stechen allenfalls:

  • Scharschmitt et al. (2013) plädieren basierend auf ihren Studien für die Entzerrung des Lehreralltags weg von der 45-Minuten-Stunden. Mehr als eine Meinungsäußerung ist dies jedoch m. E. nicht, wobei die Autoren ausgewiesene Expert:innen im Bereich der Forschung um Lehrergesundheit sind und ihre Sichtweise sicher auch nicht völlig von der Hand zu weisen ist.
  • Schnabel-Heinke (2017) kommt auf Basis „diverser“ empirischer Studien zu dem Schluss, dass insgesamt das enge Zeitkorsett und die Strukturierung durch das Pausenklingeln als zentraler Stressfaktor identifiziert worden sei. Die einzelnen Studien bleiben jedoch leider eher diffus. Als Grundlage für ihre Aussage dient ein Verweis auf das Buch von Bauer (2007), bei dem es sich jedoch um ein populärwissenschaftliches Werk ohne eigentlichen empirischen Anspruch handelt.

Wie lassen sich die Ergebnisse zusammenfassen? In der absoluten Mehrzahl der Studien taucht der Begriff „Doppelstunde“ vor allem zur Beschreibung von Interventionen auf – und nur äußerst selten als untersuchte Variable auf den Lernerfolg oder den von Lehrpersonen empfundenen Stress. Tatsächlich halbwegs belastbare empirische Studien sind kaum vorhanden und kommen, wenn sie existieren, dann eher aus der Physikdidaktik (siehe unten). Im Hinblick auf Lehrergesundheit finden sich eine Vielzahl von Meinungsäußerungen entsprechender Forscher*innen, die empirische Basis dieser Meinungsäußerungen ist allerdings – vorsichtig gesagt – sehr dünn.

Insgesamt gehen die unten beschrieben Befunde eindeutig in die Richtung, dass Einzelstunden mit ziemlicher Sicherheit für den Lernerfolg der SuS insgesamt die bessere Wahl sind – zumindest findet sich derzeit keine gegenteilige Evidenz. Eine Erhöhung der Stundendauer hatte in den zitierten Untersuchungen, anders als die oft geäußerten Vorteile von Doppelstunden nahelegen – kaum positive Effekte auf die Verarbeitungstiefe der besprochenen Inhalte. Die Hattie-Studie stützt diese Sichtweise.

Der Einfluss von Blockunterricht auf den wahrgenommenen Stresslevel der Lehrkräfte ist aus meiner Sicht unklar.  im Hinblick auf eine Beruhigung (“Entschleunigung”) des Schulalltages für Schüler und Lehrer ist empirisch nicht belegt. Natürlich ist dies auch keine Widerlegung dieser oft gehörten Sichtweise. In Bezug auf die Lehrer- und Schülergesundheit (“Stressreduktion”) ist der Forschungsstand derzeit unklar.

Ich freue mich über Kommentare und Hinweise zu weiteren Studien, die dieses Gesamtbild abrunden (und natürlich gern auch korrigieren dürfen!). (Ergänzung 6.12.22)

Hannes Sander